Frage:
In unserer Umgebung trifft man viele Personen, die im Namen der Religion (dîn) sprechen. Manche von ihnen besitzen einen akademischen Titel, andere sind Autoren. Alle sind in der Lage, ihre unterschiedlichen Meinungen zu äußern.
Befinden sich die heutigen Gelehrten in einem Zustand, der wünschenswert ist? Ist dieser momentane Zustand normal?
Antwort:
Der Islam ist die Religion Allahs. Die Form, die Regeln und Gebote setzt Allah, der Erhabene, fest. Weder den Propheten noch anderen steht das Recht zu, eigenmächtig eine Religion zu gründen und die ’ibâdât zu gestalten. Die Aufgabe des Propheten – Friede und Segen seien mit ihm – war es, im Namen Allahs zu sprechen und zu gewährleisten, dass Allahs Forderungen in die Tat umgesetzt werden. Wenn die Gelehrten (’ulamâ‘) und jene, die zur selbstständigen Urteilsbildung aus den Quellen befähigt sind (mudschtahidûn), im Namen der Religion sprechen, repräsentiert dies nicht ihre persönliche Meinung. Sie geben ihr Verständnis von der Religion an jene weiter, die nicht die Möglichkeit haben das gleiche Verständnis aufzubringen. Dies geschieht ausschließlich über Themen, die nicht ausdrücklich im Qur’ân oder in den Überlieferungen des Propheten (’ahâdîth) vorkommen. Ansonsten besitzt ein ’âlim, absolut nicht das Recht etwas Neues einzuführen oder etwas bereits Bestehendes aufzuheben. Eine solche Behauptung würde ihn seine Religion kosten, denn eine Aufhebung von etwas, dass von Allah festgelegt wurde, würde den Status als Gläubigen (mu’min) ebenfalls aufheben.
Bei den Gelehrten und Imamen, die im Namen der Religion sprechen, gibt es zwei Problematiken. Erstens: Die heutigen Gelehrten erhalten ihre Titel durch staatlich anerkannte Bildungseinrichtungen oder streben ihn persönlich in privaten islamischen Schulen (madrasa) oder ihresgleichen an. Im ersten Fall, nämlich der staatlichen Bildungserziehung, kommen bei den Muslimen Befürchtungen aufgrund des vorherrschenden Laizismus1 auf. An diesen Befürchtungen ist nichts auszusetzen. Vor wem sollte man denn sonst zweifeln, wenn nicht vor einem Staat, der die islamische Regierungsform (Kalifat) abschaffte, den Gebetsruf (’adhân) und den Qur’ân bekämpfte und den Islam aus seinem Inneren heraus, zu zerbrechen versuchte? Auf der einen Seite wurde der Kampf gegen die praktizierenden Muslime geführt, auf der anderen Seite soll dieser Staat nun Religionsgelehrte ausbilden.
Die Gläubigen (mu’minûn) trugen in dieser Hinsicht Befürchtungen, die berechtigt waren. Die Aussagen derjenigen, die in diesen Bildungsstätten ausgebildet wurden, bestätigten die Befürchtungen der Gläubigen. Ihre Art, im Islam ständig Zugeständnisse zu machen und ihr erniedrigendes Verhalten gegenüber angesehenen Persönlichkeiten dieser Umma, sind Missetaten, die man nicht außer Acht lassen kann.
Auf der anderen Seite befinden sich Gelehrte, die sich auf privater Ebene weiterbildeten oder in einer privaten islamischen Schule (madrasah) aufgeblüht sind, die jedoch Erschwernisse beim Erkennen und der Analyse des realen Lebens zeigten. Sie traten vor ihren Altersgenossen auf, die wir als „modernes Personal“ bezeichnen können, als jene, die sich schriftlich und mündlich nicht artikulieren können und kein pädagogisches und soziologisches Wissen besitzen. Jene, die zum Modernismus geneigt sind, neigen auch gleichzeitig zu ihren eigenen Gelüsten. Es sind jene, die sich an die Religion nur bei Beerdigungen und beim Fastenbrechen (’iftâr) erinnern. Diese große Anzahl an Personen ziehen es eben vor, auf der Seite jener Gelehrten und Imame zu stehen, die ihren Neigungen eher zusprechen. Obwohl die Verhaltensweise der anderen Gruppen freundlicher und herzlicher sind, ist jedoch die Anzahl ihrer Angehörigen gering.
Die Schrift und das Wort sind die Kriegsmittel der heutigen Zeit. Die fehlende Kompetenz auf diesem Gebiet führte zu Problemen, deren Beseitigung äußerst erschwerend ist.
Das zweite Problem:
Ein Urteil im Namen Allahs zu fällen und eine Entscheidung im Rahmen von „erlaubt“ oder „nicht erlaubt“ zu treffen, ist absolut keine Angelegenheit eines jeden Gelehrten. Kann es auch nicht. Diejenigen, die das Recht dazu haben, sind Personen, die als mudschtahid bezeichnet werden. Für jene, die diese Stufe nicht besitzen, gibt es die Stufe des Mufti. Der Mufti stellt eine Stufe dar, der die übermittelnde Tätigkeit zwischen gewöhnlichen Muslimen und den mudschtahidûn ausübt. Ein Mufti gibt die gefällten Urteile (’idschtihâd) eines mudschtahid den gewöhnlichen Muslimen zur Praktizierung weiter und ist ein offizieller Erteiler von islamischen Rechtsgutachten.
Mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts stellte man fest, dass es keinen kompetenten Vertreter gibt, die die Lücke der fehlenden mudschtahidûn füllen könnten. Angesichts der Lawine an neuen Themen, die auf ein Urteil warteten, konnte niemand gefunden werden, der die Fähigkeit dazu besitzt sie zu beurteilen. Jeden Tag aufs Neue traten neue Probleme auf, aber hinsichtlich dieser Probleme konnte kein mudschtahid gefunden werden, der zur Beruhigung der Muslime diese Probleme behandeln bzw. lösen konnte. In Abwesenheit der mudschtahidûn konnten auch keine Muftis gefunden werden, die diese Lücke ausreichend füllen konnten. Die Gründe hierfür könnte man noch erweitern.
Egal was wir tun, das eigentliche Problem liegt daran, dass die Muslime die Notwendigkeit dafür nicht tief in ihrem Herzen spüren. Zur Verantwortung könnten diejenigen gezogen werden, deren Verständnis von Bildung sich nur auf die Mathematik oder sonstige Wissenschaften begrenzt und die sich der Bedeutung nicht bewusst sind, intelligente Schüler auch in islamischen Wissenschaft, wie im z. B. im fiqh, auszubilden. Die Situation ist heute noch die Gleiche.
Wir werden auf die Probe gestellt. Einige treten aus dem Islam selbst hervor, versuchen diesen zu manipulieren und verbreiten Ansichten, welche die Religion schwächen. Andere wiederum greifen den Islam von außen an. Aufgrund ihrer Stärke kann dagegen jedoch nichts unternommen werden.
Die ist eine Prüfung. Allah, der Erhabene, möchte unterscheiden zwischen denjenige, deren Taten mehr zur Gottesfurcht (taqwâ) neigen und denjenigen, deren Taten sich nach ihren Begierden und ihrem Ego (nafs) richten. Heutzutage den Glauben (’îmân) aufrecht zu erhalten und rechtschaffene Taten zu vollbringen, ist vielleicht so schwierig wie noch nie. Dies ist die Quintessenz der Sache.
Die Lösung liegt in den Händen der Muslime, nämlich in dem sie die Lösung dieses Problems als eine Notwendigkeit betrachten und es auch wahrnehmen. So Allah will, wird für ein Ergebnis gearbeitet, welches wir in naher Zukunft betrachten könnten. Aufgrund des erheblichen Mangels und der intensiven Investition an Zeit, werden wir zunehmend ungeduldig.
Lasst uns uns weiterhin bemühen und du‘â’ sprechen.
Nureddin YILDIZ