Kopftuch

Ich habe keine Kraft mehr und möchte mein Kopftuch (Hidschab) ablegen

Frage:
Ich bitte ganz dringend um eine Stellungnahme. Vielen Dank schonmal im Voraus. Ich war fast neun Jahre verheiratet und habe zwei kleine Kinder aus der Ehe. Vor ein paar Monaten habe ich mich nach Jahren voller Qual getrennt. Ich wurde von meinem Mann physisch verletzt, jahrelang erniedrigt und geschlagen und was noch schlimmer war, psychisch misshandelt. In den Jahren hat er es geschafft, dass ich schwere Depressionen, ein komplexes Trauma, eine Essstörung und andere Störungen entwickelt habe.

Ich trage mein Kopftuch seit zehn Jahren, bin aber nun an einen Punkt angelangt es ablegen zu wollen. Ich versuche jeden Tag daran festzuhalten, aber nur die Strafe Allahs hält mich davon ab. Ich weiß aber nicht, ob ich es weiter schaffen werde. Es hängt sehr viel psychisches Leid dahinter. Mein Selbstbewusstsein, mein Stolz und meine Kraft hat er mir geraubt. Ich bin alleine und habe zwei Kinder zu verantworten. Alles keine Gründe, um das Hidschab abzulegen, ich weiß; aber der Druck ist unerträglich geworden. Ich habe Bedenken, dem nicht entgegenhalten zu können. Welche Strafe zieht das Ablegen des Hidschabs mit sich? Was, wenn der Druck unerträglich geworden ist? Ist das psychische Leiden eine Rechtfertigung? Ich habe versucht ein gutes Vorbild für den Islam und den muslimischen Frauen zu sein. Ich Habe versucht das Hidschab erfolgreich und mit stolz zu vertreten. Dass mein Mann mir so viel Leid angetan hat, hat keiner erfahren. Ich wollte nicht, dass die Menschen sich in ihren Vorurteilen bestätigt fühlen.

Ich hoffe, ich konnte mein Anliegen klar schildern. Verzeihen Sie die Emotionalität. Ich hätte nie gedacht, an diesen Punkt anzukommen. Danke für Ihre Hilfe.

Antwort:
Zuerst muss gesagt werden, unter einem Unglück leidet nur der, den es trifft. Wie sehr kann ich Ihren Schmerz nachempfinden? Natürlich fühlen Sie als Betroffene einen Schmerz, den ich nicht nachempfinden kann. Ich bin mir dessen bewusst. Ich möchte, dass Sie wissen, dass ich das weiß. Berücksichtigen Sie das, wenn Sie weiterlesen, und sehen Sie es als meine geschwisterliche Pflicht an, einer Glaubensschwester die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie wehtut. Ich kann Ihren Schmerz nicht nachempfinden, aber nehmen Sie meine Worte auch nicht auf die leichte Schulter.

Hier liegt in Fehler vor, und wir sehen, dass viele Muslime diesen Fehler begehen. Dieser Fehler ist Folgender: Wir heiraten und denken, dass unser Ehepartner uns gehört, als ob es sich um eine Ware handelt. Wir bekommen Kinder und denken, dass auch unsere Kinder uns gehören, als ob es sich um eine Ware handelt. Wir wissen, dass wir vergänglich sind, klammern uns aber an anderen vergänglichen Dingen und Menschen fest. Auf der anderen Seite klopfen wir jedoch große Sprüche, wenn es darum geht, über den Glauben an Allah zu sprechen. Es hieß doch, dass Allah uns genügen würde? Wo bleibt hasbunallah wa niʿmal wakil? Wenn wir sagen, dass Allah uns genügt, wie können wir daran zerbrechen, wenn wir keinen Ehepartner oder keine Kinder haben? Warum sollen wir in solch einer Situation dem Schaitan die Türen öffnen? Für wen sollte ich trauern und meine Tränen vergießen? Für Sie oder für die Mütter, die ein behindertes Kind auf die Welt bringt oder selber nach der Geburt eine Behinderung erleidet? Soll ich Ihnen nachtrauern oder einer Mutter, die weiß, dass ihr Kind nach zwei Jahren aufgrund einer Krankheit sterben wird und zwei Jahre lang ihr totgeweihtes Kind liebt und versorgt? Wem sollte ich Ihrer Meinung nach eher nachweinen? Legen wir fest, wie Allah uns prüft oder ist Er es, Der das bestimmt? Sie durchleben jetzt eine schwierige Phase, befinden sich auf dem Höhepunkt Ihrer Prüfung, die von Allah kommt und stehen einen Schritt vor dem Paradies. Wie kurz und vergänglich ist denn dieses Leben, dass es Sie dermaßen erdrücken kann?

Wir kennen und glauben nur an eine einzige Sache: Was immer auch Allah bestimmt, es ist schön. Was immer auch Allah befiehlt, darin steckt nur Gutes. Er weist niemanden ab, der sich Ihm zuwendet. Das wissen wir und daran glauben wir. Stehen Sie aufrecht und lassen Sie sich von den kleinen Seitenhieben des Schaitans nicht ins Wanken bringen.

  1. Füllen Sie Ihren Tag komplett aus. Sie sollten keine freie Zeit haben. Verausgaben Sie sich, und zwar dermaßen, dass Sie abends regelrecht ins Bett fallen. Wenn es sein muss, indem Sie arbeiten, mehr Geld verdienen und dadurch auch mehr spenden (sadaqa).
  2. Glauben Sie fest daran, dass Ihre Situation von Allah gewollt ist und das Beste für Sie ist.
  3. Lesen Sie sich immer und immer wieder die Qurʾân-Verse durch, die über den Glauben zu Allah (ʾîmân) handeln. Verankern Sie die Hingabe zu Allah und die Vergägnlichkeit dieser Welt in Ihre Gedanken.
  4. Unser Trostspender ist das Paradies. Um dort hinzugelangen, versuchen wir standhaft zu bleiben und dort werden wir all das bekommen, was wir uns sehnlichst wünschen.
  5. Unsere größte Waffe ist unser Bittgebet (duʿâʾ). Öffnen Sie Ihre Hände und wenden Sie sich jede Stunde zu Allah zu. Suchen Sie Zuflucht bei Ihrem Herrn, denn es gibt keinen größeren Genuss und keine größere Freude, als sich auf Allah zu verlassen und Zuflucht bei Ihm zu suchen. Suchen Sie Zuflucht, indem Sie Allah anflehen, Tränen vergießen und auf Ihren Wünschen bestehen.
  6. Es ist nicht falsch, aufgrund des Diesseits Tränen zu vergießen, traurig zu werden oder besorgt zu sein. Aber hierbei sollte ein gewisses Maß eingehalten werden. Aus wie vielen Tagen besteht diese Welt bzw. Ihr Leben? Wie viel Tage davon möchten Sie mit Tränenvergießen vergeuden? Fokussieren Sie sich auf Ihren Alltag.
  7. Sprechen Sie viel duʿâʾ.

Seien Sie Allah anvertraut und sprechen Sie bitte auch für uns Bittgebete (duʿâʾ).

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